Warum die Piraten zu Deutschland gehören

Nun sind die putzigen Piraten ganz aus dem Häuschen: Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate haben sie aus heiterem Himmel ein Landesparlament „geentert“. Was sie dort tun wollen, darüber müssen sie vermutlich erst mal nachdenken. Macht aber nichts, denn schließlich sind die Piraten, deren Ideen irgendwo zwischen Transparenz, dem Recht auf kostenloses U-Bahnfahren und „Keine Ahnung“ oszillieren, total angesagt. Besonders, weil sie wahlweise jung, erfrischend, anders, unkonventionell oder gar richtig liberal sein sollen.



In erster Linie sind Piraten mitsamt ihrer demonstrativ zur Schau gestellten Naivität allerdings eines: paradox. Das beginnt schon beim Lieblingsthema der chaotischen Kerlchen, nämlich der Transparenz. Was sie hier von der Politik fordern, erinnert schon nahezu an totalitäre Überwachungsfantasien. Zugleich jedoch beanspruchen sie für sich selbst und ihre Anhänger das Recht auf umfassende Anonymität im Rahmen digitaler Debatten. Doch wohlfeile Widersprüchlichkeit scheint offenbar zum Standardrepertoire piratiger Philosophie zu gehören. So endet auch das tiefe Misstrauen gegenüber dem Staat, das so hip, cool und ein bisschen Che-Guevara-mäßig daherkommt, spätestens dann, wenn es um staatliche Alimentierung geht. Da nämlich ist der Wunschzettel der Piraten lang: Kostenlose Bildung vom Kindergarten bis zur Uni, freier Zugang zu Archiven, Bibliotheken und ähnlichen Einrichtungen, gratis Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, WLAN für alle, sowie vieles mehr. Nicht zu vergessen übrigens das Bedingungslose Grundeinkommen als Schmankerl oben drauf. Und die Rechnung? Nun, die bekommt natürlich Papa Staat – wer sonst? Was die lustigen Piraten erstaunlicherweise keineswegs daran hindert, sich selbst das Gütesiegel „liberal“ zu verpassen. Auch wenn ein starker Staat, der seine Kinderchen durch großzügige Geschenke sanft aber doch eindeutig entmündigt, mit Liberalismus ungefähr genauso viel zu tun hat wie ein Aufenthalt im Gulag Nordkoreas. Die Devise scheint also vielmehr „Freiheit zum organisierten Widerspruch“ zu lauten. Nur so ließe sich auch erklären, weshalb eine Partei einerseits für Datenschutz plädiert und andererseits Wikileaks in den Himmel hebt. Oder gilt Datenschutz nur für gute Piraten, nicht jedoch für böse Amis? Oder nennt man das dann Transparenz?

Fragen über Fragen, die sich allerdings niemand, und am allerwenigsten die Piraten selbst stellen müssen. Denn eigentlich passen die chaotischen Kerlchen wunderbar zu einer Gesellschaft, die nach dem Motto „Entweder und oder“ handelt. Man nehme einfach von allem das Beste. Atomkraft? Nein danke! Aber bitte auch keinen überteuerten Strom oder gar Windräder vor der eigenen Haustür. Gentechnik? Pfui Teufel! Wirksame Medikamente hingegen werden dankend angenommen. Ebenso attraktiv erscheint auch die obligatorische attac-Demo, auf der so lange mitgestapft wird, bis sich dank Globalisierung zufällig ein großartiges Job-Angebot in New York ergibt. Zugleich gehört es zum guten Ton, von Umverteilungsfantasien beseelt Kapitalismuskritik zu üben und parallel dazu von dessen Früchten zu profitieren. Kein Wunder also, dass hierzulande auch ein Mann in Bellevue einzog, der trotz seines stolzen Gehalts nicht auf Übernachtungen bei Maschmeyer und günstige Kredite verzichten mochte.

Insofern ist gelebte Paradoxie nicht nur ein Privileg der lustigen Spaß-Partei, sondern ebenso Bestandteil einer Gesellschaft, die sich zielsicher die Rosinen aus dem Kuchen pickt und über den Rest nicht nachdenkt. Ein fabelhaftes Wunderland also, wo alles vom Himmel fallen möge, Gedanken an das „Entweder oder“ nicht existieren, Doppelmoral allgegenwärtig ist und doch geflissentlich übersehen wird. Insofern gehören auch die Piraten ganz eindeutig zu Deutschland.


Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen. 

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